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Strahlende Stimmen der sehnenden Sucht

John Dew inszeniert am Staatstheater Darmstadt Richard Wagners „Tristan und Isolde“

Die Liebe in all ihren Ausprägungen ist der vorherrschende Gegenstand der meisten Opern, seien sie nun von Händel, Mozart, Verdi oder Pucchini. Doch keiner hat dieses Thema derart kompromisslos und vereinnahmend aufgearbeitet wie Richard Wagner. In allem die Grenzen sprengend und die höchsten Ansprüche an sich, die Musiker und das Publikum stellend, hat er auch hier die Liebe zu einem absoluten, in sich nicht nur widersprüchlichen sondern letztlich nicht realisierbaren Lebensinhalt erhoben. Seine Oper „Tristan und Isolde“ kann man als Reinkarnation von Wagners Liebesvorstellungen betrachten, die zum nicht geringen Teil aus sener eigenen Biographie erwuchsen.

Ralf Lukas (Kurwenal), Andreas Schager (Tristan), Ruth-Maria Nicolay (Isolde), Erica Brookhyser (Brangäne)

Ralf Lukas (Kurwenal), Andreas Schager (Tristan), Ruth-Maria Nicolay (Isolde), Erica Brookhyser (Brangäne)

Nach seiner politisch bedingten Flucht aus Deutschland nach den 48er-Unruhen lernte er in Zürich Mathilde Wesendonk kennen, die Frau eines großzügigen Mäzenaten, und verliebte sich unsterblich in sie. Diese letztlich unerfüllte Liebe, die der erwähnte Mäzen abrupt beendete, schlug sich in „Tristan und Isolde“ nieder, und die Oper wurde dadurch zu einem einzigen musikalischen Sehnen über drei Akte. Dieses Sehnen, vor allem das immer wieder auftauchende Leitmotiv mit dem berühmten „Tristan-Akkord“, zieht sich in variierter Form durch die ganze Oper und übt einen geradezu magischen Sog auf die Zuhörer aus.

Laut Libretto wirbt Tristan Isolde als Frau für König Marke, obwohl die beiden sich aus einem früheren, dramatischen Treffen bereits ihre Liebe gestanden haben. Isolde sinnt wegen dieser Demütigung auf Rache und plant, sich und Tristan noch während der Überfahrt durch einen Gifttrank zu töten. Doch ihre Zofe Brangäne vertauscht den Todestrank gegen einen Liebestrank, der die beiden nach dem Genuss unrettbar in gegenseitige Liebe verfallen lässt. Da die Brautwerbung nicht mehr rückgängig zu machen ist, müssen Tristan und Isolde ihre Liebe geheim halten. Doch Trsitans angeblicher Freund Melot stellt ihnen eine Falle und überrascht das Liebespaar zusammen mit König Marke in flagranti. Der so entlarvte Tristan fordert Melot zum Zweikampf und lässt sich absichtlich besiegen, nachdem er von Isolde das Versprechen eingeholt hat, ihm in den Tod zu folgen. Im dritten Akt liegt Tristan tödlich verwundet in seiner Burg und wartet auf Isolde, die allerdings so spät kommt, dass er in ihren Armen stirbt. Der dazustoßende Marke kommt ebenfalls zu spät, um ihnen mitzuteilen, dass er nach Brangänes Beichte nichts mehr gegen ihre Liebe hat. Isolde beklagt in der berühmten letzten Passage „Isoldes Liebestod“ Tristans Tod. Ob sie ihm wirklich folgt bleibt offen, da Wagner darüber nichts sagt. John Dew lässt daher dieses Ende ebenfalls offen. Im Gegensatz zu „Romeo und Julia“ endet das Ganze nicht in einem perfekten, symmetrischen Doppeltod, sondern lässt verschiedene Interpretationen offen, die jedoch für die Qualität der Oper und jeglicher Inszenierung irrelevant sind, da es in erster Linie um die Darstellung der Unmöglichkeit einer Liebe unter Lebenden ist. Nur der Tod kann diese Liebe vollenden.

Andreas Schager (Tristan), Ruth-Maria Nicolay (Isolde)

Diese im Grunde genommen ahistorisch angelegte Handlung verlangt von einer Inszenierung keine Anbindung an eine bestimmte Epoche. Und so hat Heinz Balthes die Bühne auch knapp, beinahe spartanisch angelegt. Einige Sitzmöbel, die aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen könnten, markieren ebenso das Innere eijes Schiffes wie die Burg König Markes oder Tristans eigene Burg. Der tatsächliche Ort des Geschehens spielt keine Rolle, die Ereignisse spielen sich im Inneren der Figuren ab. Auch die Kostüme von José-Manuel Vázquez folgen diesem Konzept. Sie siedeln das Stück irgendwo zwichen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der heutigen Zeit an, ohne dabei einen besonderen Akzent zu setzen. Die unterschiedlichen Orte und Situationen beschreibt diese Inszenierung einzig mit den Mitteln der Beleuchtung.

Schon das Vorspiel beginnt mit dem berühmten „Tristan-Akkord“ – F, H, Dis, Gis -, der in kein klassisches System passt und sich erst in der Jazz-Musik wiederfindet. Dieser Akkord drückt auf einzigartige Weise das herzzerreißende Sehnen der Liebe aus, und das melodisch-harmonische Motiv um diesen Akkord herum zieht sich als Leitmotiv durch die gesamte Oper.

Im ersten Akt verlegt Dew den Männerchor der Seeleute hinter die Bühne, womit er verdeutlicht, dass die Protagonisten – Tristan und Isolde mit ihren Begleitern Kurnewal und Brangäne – sich im Inneren des Schiffes befinden. Die beiden Männer verharren im Hintergrund der Bühne, während Isolde, gespielt von Ruth-Maria Nicolay, und Brangäne (Erica Brookhyser) im Vordergrund die Bühne beherrschen. Hier erzählt Isolde ihrer Zofe von den Hintergründen ihrer Rachsucht: dass Tristan ihren Verlobten im Kampf getötet habe und ihr dann – schwer verwundet – in die Hände gefallen sei; dass sie den Wehrlosen nicht habe töten könne, da sie sich in ihn verliebt habe; dass er versprochen habe, zu ihr als Liebender zurückzukommen, aber sie jetzt an Marke verraten habe; dass sie diese Schmach nicht ertragen könne und mit ihm zusammen sterben müsse. Diese Erzählung trägt sie mit wachsender Erregung vor, und Wagners Musik verstärkt diese Erregung. Dabei muss man betonen, dass Wagner den Sängern keine musikalische Vorlage gibt. Wagners Personen singen keine Arien mit wiederkehrenden Refrains und eingängigen Melodien, deren melodischen und harmonischen Rahmen das Orchester vorgibt, sondern die Sänger müssen eine Melodielinie singen, die dem Satzbau und der Aussage folgt. Dabei setzt der Gesang oft ohne das Orchester ein, das dann mit harmonisch passenden Akkorden und Klangfolgen die entsprechende orchestrale Atmosphäre schafft. Da die Sänger und Sängerinnen in der „durchkomponierten“ Oper den gesamten Text wie im Sprechtheater singen, gibt es kaum Pausen der stimmlichen Anforderungen.

Ruth-Maria Nicolay (Isolde), Andreas Schager (Tristan)

Ruth-Maria Nicolay (Isolde), Andreas Schager (Tristan)

Arien im eigentlichen Sinn gibt es vor allem bei „Tristan und Isolde“ nicht mehr. Der durchgängige, expressive Gesang der handelnden Personen ist Normalzustand. Auch „schön“ im Sinne Mozarts oder Verdis ist diese Musik nicht, da sie unmittelbar die Emotionen ohne vordergründige ästhetische Rücksichten ausdrückt. Dafür sind Gesang und Orchestermusik von unerhörter Dichte und Intensität. Das Orchester beschränkt sich nie auf die Begleitung der Sänger sondern gestaltet die jeweilige Situation mit den eigenen Mitteln. Die verschiedenen Gefühlslagen der Figuren werden dabei durch Klangfarben und Akkorde ausgedrückt, die in dieser Oper streckenweise atonalen Charakter annehmen. So werden die Rachegelüste der verratenen Frau in dissonanten Klängen und aufgewühlten Akkorden lebendig. Das Duett zwischen Tristan und Isolde über den „Sühnetrank“ lässt an Dramatik ebenfalls nichts zu wünschen übrig, da Tristan sehr schnell ahnt, dass es hierbei nicht um eine Versöhnung sondern um den gemeinsamen Tod geht. Nachdem er diesem zugestimmt hat – aus schlechtem Gewissen oder gar aufkeimender Liebe? -, treibt die Musik beim Trunk des vermeintlichen Todestranks zu einem Höhepunkt, der dann zu einer Grabesstille absinkt, bevor die beiden wider Erwarten aus der Starre erwachen und sich im ersten Ausgenblick im Jenseits vereint wähnen. Nur mit Mühe können Brangäne und Kurwenal die Liebenden auseinanderreißen und dem auftretenden König Marke die Braut präsentieren.

Der erste Akt dieser Inszenierung bietet bereits einen dramatischen und musikalischen Höhepunkt, für den neben dem Orchester vor allem die beiden Frauen verantwortlich sind. Ruth-Maria Nicolay erweist sich nicht nur als äußerst stimmsichere und konditionsstarke Sängerin, sie gestaltet ihre Figur mit bewundernswerter darstellerischer Kraft. Man spürt die gleiche Wut wie bei Brünhilde, als sie erfährt, dass nicht Gunther sondern Siegfried ihren Widerstand überwunden hat. Die Erinnerungen an ihre Begegnung mit Tristan und die Enttäuschung über dessen Verrat spiegeln sich nicht nur in ihrem Gesang, sondern genauso intensiv in ihrer Mimik und Gestik. Neben ihr fällt jedoch Erica Brookhyser keineswegs ab. Stimmlich sehr präsent und sicher, darstellerisch stark aber nicht in den Vordergrund drängend, findet sie das richtige Maß, um dieser Rolle Kontur und Bedeutung zu verleihen. Bereits nach diesem Akt spendete das Publikum begeisterten Beifall.

Ralf Lukas (Kurwenal), Andreas Schager (Tristan), Ruth-Maria Nicolay (Isolde), Erica Brookhyser (Brangäne)

Den zweiten Akt beherrscht vor allem die lange Liebesszene zwischen Tristan und Isolde, die sich heimlich treffen, während Marke auf der Jagd weilt. Dazu erscheint hinter dem Gazevorhang auf der abgedunkelten Bühne erst ein weiße Scheibe als Sinnbild des aufgehenden, kalten Mondes, der mit fortschreitender Nacht langsam höher steigt und sich dann plötzlich zur Morgensonne wandelt, die das Liebesgeschehen buchstäblich „an den Tag bringt“ und das Liebespaar auf der hellen Bühne schutzlos dem überraschend auftretenden König Marke und Tristans vermeintlich treuem Freund Melot präsentiert. Zentraler Punkt dieses Aktes ist jedoch das intensive Liebeserlebnis von Tristan und Isolde, das sich sowohl im Gesang wie auch im Orchester zu einem Liebesrausch emporschwingt, wie ihn in seiner Intensität und Übersteigerung nur Wagner darstellen konnte. In diesem Akt findet auch Andreas Schager, der Darsteller Tristans, der im ersten Akt noch weitgehend im Hintergrund blieb, zu gesanglichem wie darstellerischen Höhepunkten. Das Liebesduett zwischen ihm und Ruth-Maria Nicolay ist an Intensität und stimmlicher Präsenz bei beiden kaum zu überbieten.

Das Ensemble schaffte es, den Spannungsbogen auch im dritten Akt unverändert hoch zu halten. Zwar beginnt dieser Akt eher zurückgenommen zwischen dem tödlich verwundeten Tristan und Kurwenal. Doch das Bangen Tristans, ob Isolde noch recntzeitig eintrifft, sorgt bald für Dramatik, denn Tristan fühlt den Tod nahen. Dabei steigert sich Andreas Schager in ein geradezu manisches Delirium zwischen Todessehnsucht und Bangen hinein, das höchste sängerische Anforderungen mit körperlicher Hinfälligkeit verbinden muss. Ein Drahtseilakt, den Schager ohne jeden Anflug von Lächerlichkeit meistert. Im gesungenen Sterben steckt ja stets ein latentes Stück unfreiwilliger Komik, das es gilt nicht zum Ausbruch kommen zu lassen. Auch hier wieder sekundiert das Orchester mit viel Eigenständigkeit den Ausbrüchen des Todgeweihten Tristan, und gemeinsam treiben Sänger und Orchester dem Augenblick zu, in dem – fast zu spät – Isolde erscheint, um Tristan in ihren Armen sterben zu lassen. Ein letztes gemeinsames Duett, und dann heben Isolde und das Orchester zu „Isoldes Liebstod“ an, der Apotheose der Liebe am Schluss dieser Oper, die dann mit drei leisen Schlägen des Orchesters verklingt.

Hatte das Publikum bereits nach den ersten beiden Akten kräftigen Beifall gespendet, so steigerte sich dieser nun zu begeistertem, von Bravo-Rufen gespicktem Applaus, der teilweise in einen rhythmischen Rausch verfiel. Vor allem den beiden Hauptdarstellern galt der Beifall, aber auch Erica Brookhyser, Ralf Lukas (Kurwenal) und Thomas Mehnert (Marke). Alle trugen zu diesem Erfolg bei, kein Schwachpunkt minderte die Wirkung. Das Orchester unter der Leitung von Lukas Martin Meister, der abgekämpft den Beifall entgegennahm, steigerte sich im Laufe des Abends zu immer neuen Höhepunkten und arbeitete die gewagten Klanggebilde von Wagners Musik mit Präzision und Intensität heraus, ohne die Sänger auf der Bühne jemals in akustische Bedrängnis zu bringen. Ein wahrhaft großer Opernabend  – für den, der Wagner schätzt.

Frank Raudszus

Alle Bilder © Barbara Aumüller

Existenzieller Albtraum mit Längen

Reiner Ortmann inszeniert in den Darmstädter Kammerspielen seine eigene Bühnenfassung von Kafkas Roman „Der Prozess“

Die großen Romane der Weltliteratur haben Theaterautoren immer wieder in Versuchung geführt, sie auf die Bühne zu bringen; mit durchaus unterschiedlichem Erfolg, denn die epische Struktur von Romanen widersetzt sich meist einer dramatischen Inszenierung. Das gilt natürlich im besonderen für die beiden enigmatischen Romane Franz Kafkas – „Der Prozess“ und „Das Schloss“ -, die sich durch Handlungsarmut und eine – meist nur leicht variierte – Wiederholung des Grundmotivs auszeichnen. Dazu kommt eine distanzierte, nüchterne Sprache, die auf jegliche Emotionalisierung verzichtet.

Nach verschiedenen Bühnenfassungen in den siebziger und achtziger Jahren, unter anderem von Peter Weiß, hatte zuletzt Andreas Kriegenburg das Romanfragment „Der Prozess“ in einer fast chaplinesken Fassung auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gebracht. Jetzt hat Reiner Ortmann eine neue Bühnenfassung erarbeitet und auch gleich die Inszenierung am Staatstheater Darmstadt übernommen.

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István Vincze (Josef K.), Klaus Ziemann (Franz | Untersuchungsrichter | Advokat Dr. Huld u.a), Andreas Vögler (Aufseher | Student | Prügler u.a), Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a)

Bühenbildner Martin Apelt, im „Hauptberuf“ Schauspieldirektor am Staatstheater Darmstadt, hat in den Kammerspielen eine grau-schwarze Umgebung aus einer langen Wand sowie quadratischen Tischen mit Stühlen geschaffen. Die eher einer Abdunkelung gleichende Beleuchtung verstärkt noch den beklemmenden Eindruck dieser düsteren Einrichtung. Wenn das Publikum seine Plätze einnimmt, sitzen fünf Personen in dunkelgrauer, moderner Kleidung an den fünf Tischen, die Köpfe wie zum Schlaf in die Arme auf den Tischen gebettet.

Der berühmte erste Satz des Romans „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ bildet denn auch im Theaterstück den Auftakt, nacheinander vorgetragen von allen Darstellern wie in einer Bachschen Fuge, erst klar voneinander getrennt, dann mit ineinander übergehenden Stimmen, bis diese Kakophonie der Stimmen plötzlich abbricht.

Von nun an wird der Inhalt des Romans von wechselnden Erzählern vorgetragen, wobei die Darsteller die Rolle des Erzählers und die einer handelnden Person übernehmen und der Rollenübergang fließend erfolgt. Natürlich hätte man aus dem Roman auch eine reine Dialogversion für die Bühne erstellen können, doch Ortmann hat erkannt, dass er damit dem Stück zwangsläufig zu viel konkretes Leben eingeflößt hätte, was dem Roman nicht entsprochen hätte. Das Beklemmende an diesem Roman ist ja gerade, dass er nicht nur keine echten menschlichen Beziehungen darstellt, sondern sie quasi für unmöglich erklärt. Josef K. spricht zwar mit den Menschen seiner Umwelt, doch nur in einer distanzierten Amtssprache, die jegliche Emotionalität ausschaltet. Liebe, Hass, Eifersucht, Neid, Missgunst und Sehnsucht sind den Protagonisten des Romans fremd. Wenn sie miteinander sprechen oder sich gar einander helfen, dann nur, um ihre eigene Situation durch einen Kontakt zu verbessern. Auch K.s Vorhaltungen gegenüber den Beamten der ihn verhaftenden Behörde sind eher von einem allgemeinen Ärger und einer Hilflosigkeit gegenüber den Unklarheiten und den fehlenden Auskünften als durch persönliche Wut geprägt. Ebenso erscheinen die Beamten nur als korrekte und emotionslose Funktionsträger. Die Frauen – die Nachbarin Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners und die Pflegerin des alten Advokaten –  zeigen zwar eine Spur mehr kommunikatives Entgegenkommen, konterkarieren dies aber sehr schnell durch die klare Artikulation eigener Interessen.

Andreas Vögler (Aufseher | Student | Prügler u.a), István Vincze (Josef K.), Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), Klaus Ziemann (Franz | Untersuchungsrichter | Advokat Dr. Huld u.a)

Andreas Vögler (Aufseher | Student | Prügler u.a), István Vincze (Josef K.), Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), Klaus Ziemann (Franz | Untersuchungsrichter | Advokat Dr. Huld u.a)

Josef K. dreht sich in diesem Karussel der Absurditäten hilflos im Kreise. Obwohl man ihn verhaftet hat, kommt es aus den lächerlichsten administrativen Gründen zu keinem Verhör, und ebensoweinig erhält er eine Anklageschrift oder zumindest eine verbale Aussage zu seiner angeblichen Schuld. Nur gelegentliche Aussagen über den Stand seines Prozesses – der irgendwo in den geheimnisvollen Gängen der Behörde als Selbstläufer zu existieren scheint – erreichen ihn und klingen immer schlechter. Der Advokat Huld, den ihm sein Onkel besorgt, ist ein älterer, pflegebedürftiger Herr, der vor allem davon spricht, dass man Ruhe bewahren müsse und dass sich alles von selbst regeln werde. Erstarrte, altersbedingte Untätigkeit auch hier. Nur die junge Pflegerin sucht die Nähe zu K., aber auch sie kann und will ihm nicht wirklich helfen.

In dem Roman geht es auf diese quälende Weise zielsicher auf das Ende zu. Alle Versuche K.s, eine Erklärung oder gar eine Anklage zu erhalten, prallen an den stoischen Vertretern der Behörde ab. Schließlich holen ihn eines Abends zwei Herren in förmlicher Kleidung ab, führen ihn schweigend in einen Steinbruch und töten ihn dort auf eine Weise, die in ihrer korrekten administrativen Art geradezu rituelle Züge annimmt.

Man hat diesen rätselhaften Roman auf verschiedene Weise interpretiert, je nach politischer oder gesellschaftlicher Ausrichtung. Die einen haben darin die prophetische Beschreibung eines letztlich tödlichen Antisemitismus gesehen, andere eine Satire auf die undurchschaubare und ineffiziente Bürokratie der k.u.k.-Monarchie, noch andere eine allgemeine Abrechnung mit totalitären Systemen. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass Antisemitismus und Totalitarismus zu Kafkas Zeiten noch gar nicht so ausgeprägt waren – selbst der in der Doppelmonarchie und im Wilhelminischen Reich durchaus vorhandene Antisemitismus galt eher den arrivierten als den kleinbürgerlichen Juden -, und für eine Satire auf die k.u.k.-Bürokratie fehlt der komische Aspekt. Kafka geht es um mehr als nur um die Bloßstellung eines um sich selbst kreisenden Behördenapparates; er hat sich mit diesem Roman eine existenzielle Angst um Schuld und Sühne von der Seele geschrieben, die wohl nur aus familiären und individualpsychologischen Konstellationen zu erklären ist. Der permanente Konflikt zwichen dem hochsensiblen Franz und seinem eher bodenständigen und cholerischen Vater dürften hier eine ebenso große Rolle gespielt haben wie eine elementare Lebensangst, die allerdings ein Grundelement der Generation vor dem Ersten Weltkrieg bildete. Damit spiegelt Kafkas Roman die Befindlichkeit einer Gesellschaft wider, die durch die rasante industrielle, politische und gesellschaftliche Entwicklung buchstäblich aus der Bahn geworfen war.

István Vincze (Josef K.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), oben: Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.)

István Vincze (Josef K.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), oben: Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.)

Reiner Ortmann hat der Versuchung widerstanden, den Roman zu aktualisieren und für den heutigen gesellschaftspolitischen Kontext auszuschlachten. Seine Personen tragen zwar heutige Kleidung, aber das ist schon das einzige Zugeständnis an den Zeitgeist. Ansonsten hält er sich – abgesehen von radikalen Kürzungen – an den Urtext und stellt diesen in den Mittelpunkt. Das bedrückende Ambiente der engen Amtsstuben, das hier auch gleich die anderen Lokalitäten – etwa K.s Zimmer, die Wohnung des Advokaten oder den Steinbruch am Ende – mit abdeckt, beherrscht die gesamte Inszenierung, und nur zum Schluss symbolisiert ein starker Scheinwerfer, auf den K. zugeht, den Tod. Eine einzige Tür in der den Bühnenraum zu beklemmender Enge verkürzenden Wand dient Auf- und Abtritten der Darsteller und übernimmt dabei auch noch dramaturgische Aufgaben. Denn durch diese Tür naht immer wieder das Unheil, und durch diese Tür versucht K. verzweifelt, in das innere der Behörde vorzudringen. Obendrein lässt Ortmann die Darsteller auf eine Weise durch die Tür auftreten, dass der Kopf bis zum letzten Augenblick hinter der Wand verschwindet. Die Beamten der Behörde erscheinen so als kopflose, sprich entindividualisierte Wesen. Darüber hinaus verleiht die zentrale und geradezu transzendente Parabel über die Türhüter dieser Tür zusätzliche Bedeutung. Ein weiterer Regieeinfall, der diese Inszenierung auflockert und den bedrängenden Charakter der Situation veranschaulicht, besteht darin, dass Ortmann ganze Szenen, unter anderm die mit dem Gerichtsmaler, unter den Tischen spielen lässt, wo sich bis zu drei Darsteller in engster körperlicher Verschlingung drängeln.

Die Darsteller setzen Ortmanns Vorstellung konsequent um. István Vincze ist ein ratlos umherirrender, zunehmend verzweifelter Josef K., dessen Hilflosigkeit jedoch stets in dem Korsett einer hierarchischen Standesgesellschaft verharrt. Kein Heulen oder Zähneklappern, nur Insistieren auf Erklärungen und am Ende Hinnehmen des Unvermeidlichen. Katharina Hintzen, Andreas Vögler, Simon Köslich und Klaus Ziemann übernehmen abwechseld die anderen Rollen – Wächter, Beamte, Onkel, Advokat und die diversen Frauen -, können dabei aber keine schauspielerischen Lorbeeren ernten, da diese Rollen bewusst zurückgenommen sind, so wie auch Kafka sie nicht als Menschen aus Fleich und Blut sondern als Erfüllungsgehilfen eines undurchschaubaren Systems oder als dessen Nutznießer und Komplizen sieht. Keiner von ihnen wird in K.s Augen zu einem Menschen.

Obwohl Ortmann und die Darsteller die existenzielle Verunsicherung und Beklemmung überzeugend darstellen, können sie nicht die Längen vermeiden, die sich vor allem in der Mitte der Inszenierung ergeben. Bietet der Anfang noch gewisse Überraschungen bzw. die Beschreibung einer ungewöhnlichen Situation, wird diese im Folgenden nur noch variiert, ohne dass sich etwas grundlegend ändert. Gerade Kafkas Anliegen, das Unausweichliche, die tödliche Mechanik der Abläufe zu zeigen, führt zu einem Einbruch der Spannung, so man bei diesem Stück überhaupt von Spannung in herkömmlichem Sinn reden kann. Ist das gesamte Stück schon – wie auch der Roman – sehr kopf- und phantasielastig, so steigert sich diese handlungsarme Konzentration auf die Befindlichkeit des Protagonisten K. im Laufe der Aufführung und lässt die Intensität absinken. Ob dies am Stück, an der Regie, den Darstellern oder am begrenzten Konzentrationsvermögen des Publikums liegt, sei dahingestellt. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allen vier Gründen.

Der Beifall des Premierenpublikums fiel freundlich aus, aber ohne Emphase. Aber das bei einer Kafka-Inszenierung zu erwarten, wäre wohl auch zu viel verlangt.

Frank Raudszus

Alle Bilder © Bettina Aumüller

Ironische Bürstenstriche an einem Denkmal

Das Staatstheater Weisbaden zeigt in Darmstadt eine Bühnenfassung von Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“

Der „Weimarer Geistesriese“ Johann Wolfgang von Goethe war im frühen 19. Jahrhudnert, also noch zu seinen Lebzeiten, Objekt ungetrübter Bewunderung und Verklärung. Diese Tendenz hielt noch bis ins 20. Jahrhundert an, bis der zeitliche Abstand auch kritische oder zumindest ironisch distanzierende Stimmen hervorbrachte. Einer, der es wagte, ein wenig an dem Denkmal deutschen Geisteswesens zu kratzen, war Thomas Mann. In seinem Roman „Lotte in Weimar“ nimmt er zwei Themen auf: einerseits Goethes Frühwerk „Werthers Leiden“ mitsamt seiner literarischen und individuellen Wirkung und andererseits die Wandlung des alternden Goethe zu einem gravitätischen, seiner überragenden intellektuellen Bedeutung durchaus bewussten „Großdichter“.

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Michael Günther Bard (Goethe), Monika Kroll (Charlotte)

Die Handlung nimmt ein historisches Ereignis auf, das zwar verbürgt ist, aber keinerlei spektakulären Details aufweist. Die verwitwete Charlotte Kestner, geborene Buff, reiste im Jahr 1916 im Alter von 63 Jahren nach Weimar, um dort Verwandte zu besuchen. Dabei besuchte sie zwar auch Goethe, aber die Chroniken berichten von diesem Treffen nichts Besonderes. Die Tatsache, dass Charlotte bekannterweise das Vorbild für die unerreichbare Lotte im „Werther“ war, reichte jedoch Thomas Mann, um daraus eine leichte Komödie mit ironischem Tiefgang zu entwickeln.

Kaum ist Charlotte mit ihrer Tochter Clara im Hotel „Elefant“ abgestiegen, erkennt sie der Hotel-Kellner Mager, selbst ein glühender Verehrer des großen Weimarers, an ihren Meldedaten und setzt die Neuigkeit unverzüglich in Umlauf. Prompt erscheinen die ersten Bittsteller, die sich von Goethes ehemaliger Angebeteten Unterstützung ihrer sehr speziellen Interessen erhoffen. Der Kellner Mager würde Charlotte am liebsten noch vor dem Auspacken der Koffer einer längeren Befragung über den jüngeren Goethe unterziehen und lässt sich kaum aus dem Zimmer vertreiben. Der Lehrer Dr. Riemer, ehemals Goethes Sekretär, erhebt diese Position im Nachhinein zu einer Herzens- und Geistesfreundschaft und ist bis heute nicht darüber hinweggekommen, dass Goethe ihm keine Professur an einer Universität verschafft hat. Die Irin Mrs. Cuzzle sieht bei ihrer den Sehenswürdigkeiten und Berühmtheiten des Kontinents gewidmeten Reise eine Chance, über Charlotte an den großen Goethe heranzukommen, und die junge Adele Schopenhauer schließlich versucht, über Charlotte die Heirat des in ihren Augen missratenen Goethe-Sohnes August mit ihrer Freundin Ottiilie zu verhindern. All diese Versuche des Antichambrierens lässt Thomas Mann noch vor dem Auspacken der Koffer ablaufen, um daran zu zeigen, wie nervtötend und rücksichtslos die Lobbyisten ihre jeweiligen Interessen verfolgen.

Goethe selbst ist in diesen Gesprächen als die große Figur im Hintergrund präsent, tritt aber nicht auf. Im Roman erhält er die Nachricht von Charlottes Ankunft und lässt seinen Sohn die Einladung zum Mittagessen überbringen, die Bühnenfassung erweckt den gegenteiligen Eindruck, was zu einem ungewollten(?) komischen Effekt führt, da der Zuschauer bereits von der Einladung weiß, die Goethe jetzt erst ausspricht. Das ist nur ein Kleinigkeit, die jedoch den Unterschied zwischen Roman und Bühnenfassung verdeutlicht. Der Roman kann die Wirkung und das Auftreten Goethes wesentlich detaillierter und damit facettenreicher darstellen. Thomas Mann beschäftigt sich in diesem Roman mit der Wirkung des „Genies“ auf seine Umwelt. Im Roman erscheinen Dr. Riemer und Adele Schopenhauer durchaus als komplexe Figuren, die nicht nur die eigene Position – und auch Frustration – angesichts der Größe und Eigenarten Goethes zum Ausdruck bringen sondern auch allgemeine Erkenntnisse über diese Konstellation entwickeln. Diese detaillierte Aufarbeitung der Wirkung und Stellung großer Persönlichkeiten geht in der Bühnenfassung notgedrungen weitgehend verloren. Dr. Riemers Monologe vor Charlotte Kestner wirken eher wie kaum kaschierte Klagen über die Nichtbeachtung seitens Goethes und verleihen ihm streckenweise einen Anflug von Lächerlichkeit. Ähnliches gilt für Adele Schopenhauer oder auch August Goethe, die in der Theaterfassung auf ihren Charakterkern zurückgeführt werden. Das lässt sie holzschnittartiger als im Roman erscheinen.

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Magdalena Höfer (Lotte), Benjamin Kiesewetter (Werther)

Ähnliches gilt für Goethe selbst, der im zweiten Teil mit dem morgendlichen Erwachen ins Spiel kommt. Während Thomas Mann ihn im Roman über seine Stellung in Gesellschaft, Politik und Geistesleben reflektieren lässt, wirkt dies in der verdichteten Bühnenform eher wie eine ironische Beschreibung eines selbstgefälligen älteren Herrn, der sich sogar in seinen Selbstgesprächen nur nur als den großen Dichter sieht und den Kontakt zum Alltag weitgehend verloren hat. Sein Selbstbildnis ist durch die permanente Bewunderung seitens seiner Umwelt korrumpiert, ein Korrektiv weit und breit nicht in Sicht. Sein Diener Carl, den er ebenfalls mit – für ihn unverständlichen – literarischen Bonmots und Zitaten überhäuft, geht darüber gleichmütig hinweg, sein Sohn August jedoch hat täglich mit der Tatsache zu kämpfen, der mittelmäßige Sohn eines großen Mannes zu sein. Daran kann man schon zerbrechen, wie es viele ähnliche Beispiele gezeigt haben. Goethe selbst hört kaum zu, sondern berieselt seine Umwelt mit einem steten Strom literarisch und poetisch ausformulierter Feststellungen zu den verschiedensten Themen. Seine Umwelt macht es ihm auch leicht, da in seiner Gegenwart niemand das Wort zu einer längeren Ausführung zu ergreifen geschweige denn ihm zu widersprichen wagt. So werden Goethes Auftritte im Roman und vor allem im Theaterstück zu Monologen, die den Zuschauer nerven (sollen). Man möchte ihm zurufen „Sei doch mal still und lass die anderen reden!“. Ironischerweise gleicht er damit auf einer anderen Ebene dem Kellner Mager, der ebenfalls nicht aufhören kann, (über Goethe) zu reden.

Für Charlotte gerät der Besuch bei Goethe zur großen Enttäuschung, da er gar nicht erst das private Gespräch mit ihr sucht, sondern sie mit seinen literarisch-philosophischen Monologen zudeckt und sich ansonsten angelegentlich mit ihrer hübschen Tochter Clara befasst, wobei er Charlotte den Rücken zukehrt. Erst zum Schluss kommt es zu einem Gespräch zwischen den beiden. Im Roman stellt sich Charlotte dieses Gespräch nur vor und sagt ihm dabei ein paar Wahrheiten. In der Bühnenfassung wird dieser fiktive Charakter des Gesprächs nicht klar, so dass man es durchaus für real halten kann. Diese Ambivalenz kann von der Regie durchaus gewollt sein, da das imaginierte Gespräch einerseits für Charlotte einen quasi-realen Charalter hat und Goethe sich andererseits entsprechend seinen vorherigen Auftritten verhält. Alle Kritik an seiner Steifheit, Unnahbarkeit und Selbstgerechtigkeit beantwortet er mit literarischen Metaphern, die Charlottes Kritik im Rahmen des Zweier-Gesprächs letztlich alltäglich-kleinlich aussehen lassen. Nur der Zuschauer sieht aus der Perspektive des objektiven Betrachters die wahren Verhältnisse und Maßstäbe.

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Monika Kroll, Benjamin Kiesewetter

Regisseur Slobodan Unkovski hat zwar bereits zweieinhalb Stunden für das Stück vorgesehen, doch selbst diese Dauer kann natürlich nicht alle Feinheiten des Romans wiedergeben. Doch ihm gelingt ein sehr treffendes und gut ausbalanciertes Stimmungsbild, das den Grundtenor des Romans mit einigen Abstrichen zum Ausdruck bringt. Dabei bringt ein besonderer Regieeinfall zusätzlich Leben und Spannung in die Inszenierung: durch die gesamte Inszenierung ziehen sich Szenen aus dem „Werther“, die von zwei jungen Schauspielern – Magdalena Höfner als junge Lotte und Benjamin Kiesewetter als junger Werther – in die Handlung eingestreut werden. Diese Szenen wirken wie Träume oder Erinnerungen der alternden Protagonisten, und sowohl Charlotte als auch Goethe wenden sich diesen Szenen wie eigenen Traumgebilden zu, während die anderen Figuren sie nicht wahrnehmen. Dabei tritt mit zunehmender Spielzeit der Kontrast zwischen der ursprünglichen, absoluten Emotionalität Goethes und seiner eher indifferenten wenn nicht uninteressierten Alterssicht zutage. Ein weiterer auffallender Regieeinfall besteht darin, dass Unkovski Michael Günther Bard, den Darsteller des gealterten Goethe, über Strecken mit dem Rücken zum Publikum spielen lässt. Seine präsente Stimme ermöglicht diese Spielweise ohne Einschränkungen der Verständlichkeit, und die Absicht dahinter ist, die innere Abkehr des „großen Mannes“ vom Publikum und die zunehmende Selbstbezüglichkeit solcher Persönlichkeiten zu zeigen. Goethe kehrt nicht nur Charlotte sondern auch dem Publikum den Rücken, letztlich sogar dem realen in dieser Aufführung. Damit wehrt er sich auch gegen die Vereinnahmung durch eine Öffentlichkeit, die stets den Großen für ihre Parrtikularinteressen einzuspannen versucht.

Angelina Atlagić hat dazu ein historisches Bühnenbild geschaffen, das die Zeit um 1816 wiederbelebt. Im Bühnenhintergrund öffnet dabei ein romantische Landschaftsbild den sehnsüchtigen Blick in die Ferne. Für die Kostüme gilt das Gleiche. Charlotte erscheint im langen weißen Kleid einer älteren Dame und trägt – jungmädchenhaft-romatische Anspielung – beim Essen mit Goethe ihr von ihm damals so bewundertes Jungmädchenkleid, was er leider nicht bemerkt. Goethe kommt in schwarzer Seidenkleidung, die anderen in üblichen Kostümen des frühen 19. Jahrhunderts. Bühne und Kostüme bleiben also konsequent in der Zeit der Handlung.

Die Darsteller runden den Gesamteindruck durch beeindruckende Leistungen ab. Monika Kroll spielt die Charlotte mit der Selbstsicherheit und der feinen Ironie einer lebenserfahrenen Dame, die die Schwächen der Männer kennt, die aber selbst auch nicht gegen romantische Anwandlungen gefeit ist und eine gehörige Portion an Sehnsucht mit sich herumträgt. Sie kann dann dann plötzlich auch in Tränen ausbrechen, wenn die Eerwartungen enttäuscht werden, oder ihre Lippen ein wenig mehr zusammenpressen, wenn ein Gefühlsausbruch nicht angemessen erscheint. Auf feine und nie übertriebene Art bringt sie das Leiden der Frauen unter der immanenten Unterdrückung und Nichtachtung zum Ausdruck, die damals öffentlich als solche gar nicht wahrgenommen wurden. Michael Günther Bard stellt einen raumfüllenden, mit seinem Selbstbewusstsein und seiner selbstgerechten Art seine Umwelt beherrschenden Goethe dar, den das Vakuum um ihn herum geradezu zur Aufblähung zwingt. Jörg Zirnstein spielt den August als zerrissenen und von der Last des Vaterbildes erdrückten Neurotiker, Benjamin Krämer-Jenster den Dr. Riemer als enttäuschten, fast wehleidigen Biedermann. Viola Pobitschka tritt in der Doppelrolle der Clara und der Ottilie auf, wobei sie vor allem letzterer viel jungmädchenhaftes Wesen verleiht. Rainer Kühne spielt einen köstlich verqueren Kellner Mager und Franziska Beyer eine ziemlich verrückte Mrs. Cuzzle sowie die pragmatische Adele Schopenhauer. Martin Müller gibt Goethes Kammerdiener Carl mit stoischer Ruhe.

Das Publikum zeigte sich von dieser Inszenierung sehr angetan und spendete kräftigen beifall.

Frank Raudszus

Alle Bilder © Martin Kaufhold

Ein Glanzstück des musiktheatralischen Verismus

Pucchinis „Tosca“ in der Deutschen Oper Berlin 

1401_tosca_1In der römischen Kirche Sant’Andrea della Valle widmet sich der Maler Cavaradossi (Marcello Giordani) gerade einem Madonnenbildnis, als er, von Lärm aufgeschreckt, herumfährt und den in Lumpen gekleideten Angelotti (Ben Wagner) erblickt. Der ehemalige Konsul der Republik Rom ist aus dem Staatsgefängnis entflohen und hat sich in einer Nebenkapelle der Kirche versteckt. Als Schritte nahen, entschwindet er rasch wieder im Dunkel, und Tosca (Tatjana Serjan) tritt mit erstauntem Gesicht in die Kirche. Ob der seltsamen Geschäftigkeit Ihres Geliebten Cavaradossi vermutet sie eine heimliche Geliebte in der Umgebung und lässt ihrer Eifersucht freien Lauf. Als sie schließlich noch entdeckt, dass die gemalte Madonna mit ihrem blonden Haar und blauen Augen nicht Ihr, sondern einer anderen nachempfunden ist, entstürmt sie der Szene. Ein plötzlicher Kanonenschuss kündigt das Bekanntwerden von Angelottis Flucht an. Da Cavaradossi sein Bekenntnis zur Freiheit lebt, hilft er Angelotti und rät ihm, sich in seiner Villa „Brunnen“ vor den Fängen des berüchtigten Polizeichefs Scarpia zu verstecken.

Scarpia (Sergey Murzaev) taucht kurze Zeit später mit seinen Schergen in der Kirche auf und findet mit einem Fächer ein Artefakt, das ihm seltsam vorkommt. Mit der Nachricht einer verlorenen Schlacht Napoleons ruft der Messner seine Kantorei zusammen, und Tosca erscheint erneut, denn sie soll mit ihrer glockenhellen Stimme der Siegesfeier die gefühlte Fröhlichkeit geben. Jedoch erstarrt sie bei dem Anblickt des Fächers – es ist der der Marchese Attavanti, Angelottis Schwester, die dem Madonnenbild so ähnlich sieht. Sie lässt Scarpia ihren Zorn erkennen und begibt sich, unter den Augen von des Polizeichefs finsterem Gefolge, auf den Weg zu Cavaradossi.

Der 2. Akt zeigt als Örtlichkeit Scarpias weitläufiges und düsteres Gemach. Neben seinem großen Schreibtisch vor dem Fenster ist in einer anderen Ecke zum Diner gedeckt, und Kerzen verbreiten eine warme Stimmung. Man berichtet Scarpia, dass Angelotti weiterhin flüchtig sei, man allerdings stattdessen Cavaradossi verhaftet habe, da es den Verdacht gebe, er verstecke Angelotti. Dieser verweigert jegliche Aussage und wird als Folge in den Nebenraum zur Folter verschleppt. Scarpia lässt Tosca hereinführen. Unter den hörbaren Folterqualen Cavaradossis erzwingt er ihre Aussage zu Angelottis Aufenthaltsort. Aber nicht genug damit, verlangt er für ihres geliebten Malers Leben noch, dass sie mit ihm diniere und sich im hingebe. Im Moment des Näherkommens jedoch treibt sie ihm eines der gedeckten Messer ins Fleisch. Scarpia sinkt zu Boden. Tosca ist durch ihr Aufwachsen im Kloster sehr religiös, platziert vorsichtig zwei Kerzen zu den Seiten Scarpias und legt mit äußerst möglicher Distanz ein Kreuz auf dessen Brust ab.

1401_tosca_2Der dritte Akt: auf Toscas verbale Zusage zur Hingabe an Scarpia hatte dieser angewiesen, Cavaradossi solle nur scheinbar erschossen werden und Tosca und er könnten im Nachhinein fliehen. Im Morgengrauen wird der Maler auf das Dach der Engelsburg, dem Staatsgefängnis, geführt. Tosca erscheint zu seiner Verwunderung und berichtet ihm von seiner folgenden Scheinexekution und der darauffolgenden Flucht. Es kommt zur Aufstellung der Soldaten und der Salve. Cavaradossi bricht zusammen und die Soldaten verlassen das Plateau. Als Tosca zu dem Gefallenen eilt, erkennt sie, dass dieser tatsächlich tot ist. Im Moment der Erkenntnis, dass sie hintergangen wurde, wird Scarpias Mord bekannt. Tosca stürzt sich vor den Augen der wiedererschienen Soldaten in die Tiefe.

Diese Inszenierung von Puccinis Tosca durch Boleslaw Barlog ist eine der sehr wenigen, die zwei Pausen bietet. So gibt es einen deutlichen Kontrast zu Aufführungen, die gänzlich auf diese Unterbrechungen verzichten und die Zuschauer bestenfalls gebannt über zwei Stunden an Ihre Sitze fesseln. Sicherlich ist dies aus künstlerischer Perspektive verständlich, jedoch ist es in dieser Aufführung allein schon der Aufwändigkeit der Bühnenbilder geschuldet, dass die Zuschauerschar sich mehrmals erfrischen darf. Je Akt wird ein gewaltiges Bild präsentiert, dass durch Plastizität und Realitätsnähe beeindruckt. Filippo Sanjust zeigt hier eine sehr klare Form des Verismus auf, in dem er die Realität möglichst nah abbilden möchte. Im ersten Akt begeistert die Kirche mit ihren schmiedeeisernen Toren, die Nebenkapellen abtrennen, und einer übermenschlich großen Madonnastatue, die das Treiben beobachtet. Im zweiten Akt ist es Scarpia weitläufiges, baulich schlichtes aber böse Macht ausstrahlendes Gemach, wo auch die hellen Scheine der wenigen Fenster durch das Dunkel der Gemäuer aufgesogen werden. Und im finalen Akt ist es das Plateau einer Burg mit dem Blick in die unendliche Ferne der dunkeln Nacht, in die sich langsam aber beständig die Sonne hervorkämpft. Eine große Statue eines heroischen Kämpfers überstrahlt still das Geschehen. Die Aura der Bühne ist einzigartig – man meint sogar, die kühle Morgenluft und den niedergehenden Tau auf den Händen zu spüren.

1401_tosca_3Das spannende an Tosca ist mitunter, dass sich das ganze Geschehen tatsächlich in nur sechzehn Stunden vollzieht. Von fröhlicher Liebe einer im Kloster aufgewachsenen Sängerin und ihrem Kirchenmaler über Verrat, Folter, Mord und Tod aller Hauptfiguren vergeht gerade mal eine Nacht. Pucchini verzichtet auf lange Liebeszenen, komplexe und fiktive zwischenmenschliche Beziehungen und eine unnötig in die Länge gezogene Handlung. Geradezu imposant erscheint es, wie ein schmales Libretto eine ganze Oper ausfüllen kann, wenn sich der Schaffende doch einfach auf die Darstellung des Wesentlichen konzentriert. Und das Wesentliche ist hierbei der Kampf um die Freiheit, Liebe und Integrität der eigenen Person. Bis aufs Letzte widersteht Tosca Scarpia in dem Wunsch Angelottis Versteck preiszugeben – ein ewiges Hin und Her mit dem gequälten Cavaradossi im Nebenzimmer. Erst als der Maler vor todesnahem Schmerz in Ohnmacht fällt, unterliegt Tosca dem Willen des allmächtigen Polizeichefs.

Tatjana Serjan als Besetzung für Tosca zeigt sich authentisch zwischen Liebe, Eifersucht, Mitleid, Hass und Traurigkeit zerrissen. Sie umgarnt Cavaradossi in der Kirche aber kämpft gleichzeitig für ihren Anspruch der Einzigartigkeit in seinem Leben. Tosca leidet unter Cavaradossis Folter stärker als dieser selbst, widersteht aber der schnellen Aufgabe. Aufbrausend erwehrt sie sich gegen Scarpias Niedertracht und Gier nach ihrem Körper, bis dahin, dass sie sogar ihren frühzeitigen Tod mit einem Sprung aus dem Fenster androht. Nach dem Mord fällt sie zurück in das Sinnbild ihrer Kindheit, der gottesfürchtigen Madonna, die dem Toten noch ein ehrenvolles Erscheinungsbild verleiht.

Marcello Giordani als Cavaradossi begeistert zuallererst durch seine gewaltige Stimme. Man möchte kaum glauben, dass eine einzige Person ohne audiotechnische Verstärkung einen ganzen Opernsaal ins Beben versetzen kann. Mehrere kürzere Arien donnert er geradezu hinaus – eine, als Scarpia ihn zum wiederholten Male das Geständnis nach Angelottis Aufenthaltsort entreißen will. Der Klangkörper, den Giordani entfaltet, ist Weltklasse, und nichts könnte besser den Drang und unbändigen Willen nach Freiheit verkörpern.

Schließlich steht an diesem Abend Sergey Murzaev als Scarpia auf der Bühne, denn der eigentlich dafür vorgesehen Thomas Hampson war kurzfristig erkrankt. Seit 1991 ist Murzaev Solist am Moskauer Bolschoi-Theater und gehört damit ebenfalls zu den größten Opernsängern der heutigen Zeit. In der Rolle des Scarpia agiert er glaubwürdig scharf und zynisch. Er spielt mit Tosca wie mit einer eingefangenen Tigerdame im Dompteurkäfig – jedes Fauchen saugt er genussvoll in sich auf und treibt sie erregt vor sich durch den Raum. Jedoch begeht er schließlich den Fehler, sich von ihr abzuwenden, worin sie instinktgetrieben ihre Chance erkennt und ihren Peiniger niederstreckt.

Malte Raudszus

Alle Bilder © Bettina Stöß